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Eine weitere Schwierigkeit lag und liegt in der Fülle des zu bewältigenden Stoffes. Denn eine Geschichte der lateinischen Hymnendichtung hat der Zeit nach mehr denn ein Jahrtausend, dem Raume nach aber nicht ein Volk, sondern alle Völker und Rassen des lateinischen Abendlandes zu umfassen, also das ganze civilisierte Europa, den Balkan abgerechnet. Von dieser räumlich und zeitlich soweit ausgreifenden Literatur war aber nur ein sehr' geringer Bruchteil bekannt und zugänglich. Eine wissenschaftliche Bearbeitung derselben war daher nicht nur nicht vorhanden, es war nicht einmal die Möglichkeit einer folchen gegeben. Diese Erkenntnis, die sich dem Schreiber dieser Zeilen im Laufe des Jahres 1886 allmählich aufdrängte, weckte in ihm den Entschluß, diese annoch verschüttete Literatur auszugraben. Von ihrem Umfange hatte damals, ich darf wohl sagen, Niemand eine Ahnung; denn ich habe allen Grund zum Zweifel, ob Eugène Misset und James Weale, die kurz darauf anfingen in ihren Analecta Liturgica ähnliche Ziele zu verfolgen, sich von den Grenzen und den Schwierigkeiten ihrer Aufgabe ein flares Bild gemacht hatten. Zwei Jahrzehnte unverdrossener und ununterbrochener Arbeit hat es gekostet, das in handschriftlichen Brevieren und Missalien, Chorund Gebetbüchern der Bibliotheken und Archive aller europäischen Kulturländer und Kulturzentren zerstreute und vergrabene Material zu sammeln, zu sichten und zum Drucke zu fördern, eine Aufgabe, in der ich seit 1897 von Clemens Blume und zeitweise von Henry Marriot Bannister unterstüßt wurde. Das damals ungedruckte Material liegt nun im wesentlichen in den fünfzig bisher erschienenen Bänden der Analecta Hymnica medii aevi vor und in den Bänden 48 und 50 find insbefondere eine ganze Reihe von Problemen der Lösung zugeführt worden, die einer Geschichte der Hymnendichtung

hindernd im Wege standen. Es läßt sich nunmehr der Versuch einer solchen zunächst im Abriß wagen.

Eine dritte Schwierigkeit, die sich diesem Vorhaben entgegenstellt, besteht darin, daß Proben und Beispiele, ohne welche eine populäre Darstellung weder Verständnis wecken noch Anklang hoffen kann, nur in der Übersetzung mitgeteilt werden können, wozu in unserem eigensten Falle noch der weitere erschwerende Umstand hinzutritt, daß das Format der „Sammlung Kösel“ es unmöglich macht, den Verdeutschungen den Originaltert zur Seite zu stellen. Ich kann diesem Mangel nur dadurch begegnen, daß ich die lateinischen Terte am Schlusse des Ganzen zu einem Anhange vereinige.

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Der gesammte Lebenslauf des lateinischen Kirchenund Erbauungsliedes von seiner Wiege bis auf den heutigen Tag würde sich naturgemäß in eine dreifache Periode gliedern müssen, von denen die erste die wichtigste, die zweite die längste und reichste, die dritte die belangloseste wäre; von denen jene die altchristliche, die folgende die mittelalterliche, die lehte endlich die humanistische Dichtung zur Darstellung brächte. Die erste würde vom vierten christlichen Jahrhundert, von Hilarius und Ambrosius bis auf die Zeiten der Merowinger und Karolinger reichen, die zweite von da bis zum Konzil von Trient, das der Hymnendichtung die Lebensbedingungen entzieht, die dritte würde die Tage des älteren, jüngern und jüngsten (gallikanischen) Humanismus umfassen. In der ersten dieser Perioden hebt die kirchliche Hymnen-Dichtung den Faden der poetischen Schulüberlieferung dort auf, wo die heidnische Kunstdichtung ihn liegen läßt, um sich, getragen von den Fittichen der Melodie, mehr und mehr den Fesseln gräzisierender Metrik zu entziehen; in der zweiten treibt sie in der unerschöpflichen Kraft eines lyrischen

Frühlings poetische Blüten aller Art und schafft einen Reichtum dichterischer Formen, der nie wieder erreicht worden; in der dritten Periode endlich fällt sie, ohn mächtig, innerlich Neues und Selbständiges zu schaffen, in die sklavische Nachahmung der Antike zurück. Da diese leşte Periode am wenigsten Interesse bietet, scheiden wir sie aus unserer Darstellung aus. Die andern beiden Perioden werden wir in sechs Hauptstücken besprechen können, von denen die drei ersten die Poesie der christlich-weströmischen Kaiserzeit, der Merowingerzeit und die Blüte der karolingischen Renaissance behandeln werden; die drei legten Kapitel werden alsdann das Frühmittelalter (10. und 11. Jahrhundert), das Hochmittelalter (12. und 13. Jahrhundert) und das Spätmittelalter (14. und 15. Jahrhundert) zur Darstellung bringen.

Bevor wir uns der Entwicklung der Hymnenpoefie innerhalb dieser Zeiträume zuwenden, erscheint es angezeigt, den Stammbaum des lateinischen Kirchenliedes mit feinen mannigfachen Verästelungen dem Leser vorzuführen und ihn so mit einer Reihe kirchlicher Dichtungsarten und ihren verschiedenartigen Benennungen bekannt zu machen.

Schon der hl. Augustin hat an mehreren Stellen den Hymnus als ein „Loblied auf Gott“ bezeichnet. So sagt er bei Auslegung des 148. Psalmes (n. 17): „Wißt ihr, was ein Hyunus ist? Ein Hymnus ist ein Gesang zum Lobe Gottes. Wenn du Gott lobst, dabei aber nicht singst, so ist das kein Hymnus; lobst du etwas anderes als Gott, so ist dies, auch wenn du es im Gesange lobst, wieder kein Hymnus. Zum Hymnus gehören also drei Dinge: daß du singest, daß du lobest und zwar Gott lobest." Für den christlichen Hymnus erscheint, wenn wir seine geschichtliche Entwicklung überschauen, diese Begriffsbestimmung Augustins zu enge. Schon sein älterer Zeitgenosse Ambrosius dichtete Hymnen auf Märtyrer,

wenn er auch gewiß der Ansicht und Absicht war „Gott in seinen Heiligen" zu loben. Wir werden also das Lob Gottes" etwas weiter zu fassen haben. War der Hymnus ursprünglich zum Gesange und nur zum Gefange bestimmt, so hat die spätere Entwickelung dahin geführt, daß Hymnen auch „recitiert“, ja still gebetet wurden, ja fogar, daß es Hymnen gab, die von Anfang an ausschließlich für die stille Privatandacht, für die Lektüre geschrieben wurden. Wir werden also den „Cantus", den Augustin zum Wesen eines Hymnus fordert, nicht vom wirklichen Vortrage im Gesange zu verstehen haben, sondern von der Sanglichkeit, nicht von der Vertonung, sondern von der Vertonbarkeit. Dehnen wir diese beiden Elemente der Augustinischen Definition in der besagten Weise, so daß das Wort Hymnus in seiner weiteren und weitesten Bedeutung alles umspannt, was in den Rahmen der Hymnodie (der Hymnenliteratur) und der Hymnologie (der Hymnenforschung) fällt, so können wir den Hymnus als das „religiöse Lied", die Hymnodie als die „religiöse Lyrik“ bezeichnen. Den engeren Begriff des Hymnus werden wir sogleich weiter unten feststellen. Das religiöse Lied, der Hymnus im weiteren Sinne, fann nun entweder diesen Unterschied berührt Augustin nirgends für den öffentlichen, gemeinsamen Gottesdienst (die Liturgie) bestimmt sein oder für die Privatandacht; es kann von der Gemeinde (der Kirche) offiziell veranlaßt oder in Gebrauch genommen sein, oder es kann ohne solchen Auftrag und ohne solchen Zweck, rein zur Befriedigung des poetischen Schaffensdranges einerseits, rein zur Befriedigung der religiösen Erweckung des einzelnen Lesers andererseits geschrieben sein. Demgemäß zerfällt die gesamte Hymnendichtung in eine liturgische und eine außer liturgische, in das Lied der offiziellen und das der privaten Andacht, in Kirchen- und Haus-Lied.

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Die liturgische Poesie gliedert sich abermals in zwei große Gruppen, je nachdem sie der Liturgie des Opfers, der Messe, oder der Liturgie des Gebetes, dem gemeinsamen Stundengebete, ursprünglich der Gemeinde, später des Klerus und der Mönche, angehört. Wir können sie demgemäß nach den offiziellen Büchern, welche Opferliturgie und kanonisches Stundengebet ent halten, in die Poesie des Missale (Meßbuch) oder des Graduale (Chorbuch zum Meßbuche) und in die Poesie des Breviers oder Antiphonars (Chorbuch zum Breviere) einteilen. So erhalten wir die folgende Übersicht:

A. Liturgische Poesie.

I. Poesie des Breviers (oder Antiphonars). Hierher gehört:

1. Der Hymnus im engeren Sinne, ein Lied, das dem aus Psalmen und Antiphonen, Lektionen und Responforien bestehenden Chorgebete oder dem kanonischen Stundengebete eingefügt ist. Man unterscheidet demnach Hymnen zur Matutin (oder Nokturn), zu den Laudes, zu den sogenannten kleinen Horen (Prim, Terz, Sext, Non), zur Vesper, zur Komplet. Bekannt sind über 4000 Hymnen.

2. Das Reimoffizium, mit dem mittelalterlichen Kunstausdrucke Historia rhythmica oder rhythmata, ein Tagesoffizium, bestehend aus den eben genannten Zeiten (Horae), in dem nicht nur der Hymnus, sondern alles was gesungen wird, mit einziger Ausnahme der Psalmen und Lesungen in gebundener Rede abgefaßt ist. Bekannt sind über 600 solcher Offizien.

3. Der Tropus. Unter Tropus verstehen wir ein, sei es poetisches, sei es prosaisches Einschiebfel (oder auch Anhängsel) in einen bereits vorhandenen liturgischen Tert. Solche Einschiessel sind im Meßbuche (oder Graduale) häufiger als im Breviere. Hier treten fie in der Regel nur in den Responsorien, meist nur im dritten,

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