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ARISTOTELES.

Aristoteles war es, der durch Platon eingeführt in den ideellen Reichthum des Gedankens, sich den ungetrübten Sinn für das volle Sein der Wirklichkeit erhalten hatte, und dessen Denken sich sträubte gegen das blosse Nebeneinanderbestehen der ideellen und der sichtbaren Welt. Die Idee als das Selbstständige, bloss für sich Seiende, ohne sich selbst zur Wirklichkeit gestalten zu können, ist unkräftig und hat nur ein Sein der Möglichkeit nach; die Idee wird erst ein Lebendiges dadurch, dass sie sich durch ihre eigene Energie schöpferisch eine Wirklichkeit schafft. Das Materielle hat nicht bloss die Bestimmung des Nichtseins, sondern es ist ein Sein, dem die Beraubung (sonois), die Negation, zukommt; diese ist das absolute Nichtsein, und nur sie, nicht aber die Materie bildet den absoluten Gegensatz zu der Formbestimmung (eidos). Dieser reine Begriff der Negation ward erst durch Aristoteles entwickelt, und wird durch ihn das bewegende Princip für den Uebergang des Ideellen in das Reale. Beides kann nicht von einander erstrebt werden, sobald es einander entgegengesetzt ist und das eine das andere aufhebt; aber es ist auch nicht einander entgegengesetzt, wie nach Platon Sein und Nichtsein, sondern das Materielle enthält in sich selbst den Gegensatz, indem an demselben die Beraubung stets als Accidenz wiederkehrt; dadurch wird es eben in sich bedürftig und strebt nach der Form, wie das Hässliche nach dem Schönen. Die Negation ist demnach ein absoluter Begriff, eine dem Materiellen als solchem eigenthümliche Bestimmung; nicht die Materie, sondern die Negation, womit sie behaftet ist, wird durch die Formbestimmung negirt oder aufgehoben, wodurch das Materielle sich zu einem bestimmten, positiven Dasein gestaltet. Insofern aber in dem besonderen Sein das Materielle erhalten bleibt, so tritt auch in diesem die Negation wieder hervor und wird die nothweudige Bedingung der Position einer neuen Art des Daseins, weshalb das materielle Dasein als das Anderssein dem Vergehen und Entstehen unterworfen ist. Doch an sich ist die Materie das zu Grunde Liegende, aus welchem sich durch die Formbestimmung alles Einzelne zum individuellen Dasein gestaltet, und entsteht und vergeht, ohne dass sie selbst untergeht, weil nur das Negative an ihr, nicht aber sie selbst negirt wird. Die Formbestimmung als der absolute Gegensatz der Negation ist das wahrhaft Positive, und als immanente Einheit gegenüber der Negation als dem bloss Accidentellen der Materie, die wesentliche Bestimmung derselben. Das mit der Negation behaftete Materielle

bezeichnet Aristoteles mit dem Ausdruck divaus (Möglichkeit), woraus die in und durch sich selbst vermittelte Form sich als Entelechie zum Dasein gestaltet. Diese als die volle Wirklichkeit (végyeα) ist stets die höhere Stufe gegen das bloss der Möglichkeit nach Seiende. Die aristotelische Philosophie schreitet mit diesen Bestimmungen in genetischer Entwicklung fort von dem Niederen zum Höheren, von der dúvaus zur Entelechie desjenigen, wozu das Mögliche seiner Eigenthümlichkeit nach fähig ist, und es wird hiernach das Weltall zu einem durch die son in sich gegliederten Ganzen, in welchem dieselben zum vollen Dasein gelangen und sich als die Zweckeinheiten durchführen. In der unorganischen Natur fällt der Zweckbegriff noch zusammen mit der Nothwendigkeit des Materiellen, doch im Organischen kommt er als das unveränderte sidos, als die dem Belebten immanente Einheit, als Seele (vý) zum Dasein. Die Energie der Seele ist als Entelechie das Denken, welches zunächst als vous radηrixós bei der zeitlichen Thätigkeit des Geistes unter der nothwendigen Mitwirkung der Sinnlichkeit steht und die in das natürliche Sein übergegangenen und in demselben ganz gegenwärtigen Formbestimmungen in sich aufnimmt und dieselben hier als reine, unter der Gestalt der Ewigkeit gedachte Begriffe zum Bewusstsein bringt, so dass sie Gegenstand der erkennenden, selbstthätigen Vernunft (vous лointixós) werden, durch welche der Geist in dem reinen Elemente des Denkens die endliche Welt in die Wahrheit des Erkennens und des absoluten Begriffs erhebt, und in diesem Sichselbstdenken die Seligkeit des Göttlichen theilt.

In Aristoteles hat sich die griechische Philosophie vollendet. Bis auf Anaxagoras waren die reellen Bestimmungen des objectiven Seins der Gegenstand der philosophischen Forschung; durch Anaxagoras ward die Vernunft als das Wesen der Welt ausgesprochen, worauf von Sokrates an die Entwicklung des Erkennens in der eigenen, subjectiven Thätigkeit des Denkens die Philosophie beschäftigte, bis endlich Platon durch die Bestimmung der Ideen in denselben zur Objectivität des Erkennens zurückkehrte, ohne jedoch diese als die Macht und Wahrheit in der Wirklichkeit zu manifestiren. Aristoteles vermittelt auf speculative Weise den Gegensatz zwischen dem Reellen und Ideellen, befreiet die sinnliche Welt von der Bestimmung des blossen Scheins, und erhebt sie zur wahrhaften Wirklichkeit, in welcher sich die Idee zur Energie gestaltet.

Die Art und Weise, wie die Philosophic des Aristoteles, welche die Grundlage aller Schulweisheit und gelehrten Bildung Jahrhunderte hindurch gewesen, von den Scholastikern behandelt wurde, erregte zu Zeiten Shakespeare's bekanntlich die Aufmerksamkeit seines in wissenschaftlicher Beziehung grossen Zeitgenossen Bacon. Derselbe trat schon in einem jüngeren Alter gegen die Scholastiker auf, richtete aber seinen Hauptangriff gegen dieselben durch das 1620, also vier Jahre nach Shakespeare's Tode, erschienene, unter dem Namen ,,Novum organum" bekannte Werk und suchte durch dasselbe die Lehrweise und den Einfluss der Scholastiker zu verdrängen. Seinen Bestrebungen, unterstützt von den Anregungen, welche die Reformation zu eignem Untersuchen und Forschen gegeben hatte, gelang denn auch die gänzliche Verdrängung des Aristotelischen Systems, welche indessen in Wirklichkeit erst nach dem Tode Shakespeare's erfolgte, da die früheren Angriffe, namentlich von Petrus Ramus, dasselbe nicht zu erschüttern vermocht hatten.

Eine wissenschaftliche Bildung Shakespeare's, der im Jahre 1564 geboren ist, wird denn auch nur nach dem Aristotelischen Systeme erfolgt sein können, da dieses noch unbedingt das herrschende in den Jahren war, in welchen es wahrscheinlich ist, dass der Dichter sich philosophische Kenntnisse erworben hat*). Aber auch selbst Bacon verwahrte sich noch in der 128. Aph. des 1. Buchs des Nov. org. dagegen, die gebräuchlichen philosophischen Systeme umstürzen zu wollen; er sagt daselbst:

,,Ob wir die jetzt gebräuchlichen philosophischen Systeme nebst Künsten und Wissenschaften umzustürzen suchen? Niemand hat das Recht, das zu vermuthen. Gegentheils erkennen wir ihren Nutzen, ihren Werth, ihre Würde mit Freuden an."

Was dann diese hier erwähnten philosophischen Künste anbetrifft, so müssen wir dieselben in Verbindung setzen mit der folgenden Warnung, bei welcher wir hinsichtlich der in derselben vorkommenden Bezeichnung „,spielende Künste des menschlichen Geistes und der Gewandheit" daran zu erinnern haben, dass man

*) In dem Jahrhundert des Dichters machte sich unter Anderem, wie wir schon vorhin bemerkten, Melanchthon von Wittenberg aus um die Aufnahme der Aristotelischen Philosophie verdient. 1531 erschien eine Gesammtausgabe der Aristotelischen Schriften von Erasmus und Grynäus. 1551-1552 die Edition von Camotius. 1584-1587 von Sylburg. 1597 von Julius Pacius. Einzelne Schriften und Commentationen derselben erschienen von Petrus Victorius, Robortellus, Gifanius, Muretus und Lambinus, Accorambonus. Ja selbst im Anfange des 17. Jahrhunderts erschienen noch Gesammtausgaben: 1605 von Casaubonus und 1639 von du Val. Cfr. Biese Phil. des Arist. I., XL.

zu Zeiten Bacon's und Shakespeare's die dramatischen Kunstwerke hauptsächlich nur durch Aufführung auf der Bühne kannte und wohl kaum als eigentliche Litteraturproducte ansah. Bacon sagt in der 31. Aph. des 2. Buchs des Nov. org.:

,,Auch die spielenden Kunsstücke des menschlichen Geistes und der Gewandheit sind nicht durchaus zu verachten; manche, wenn gleich nur ein Spielwerk, können doch sehr lehrreich werden.

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Endlich soll man keineswegs Alles, was gemeinhin für abergläubisch und magisch verschrien wird, übergehen, denn wenn gleich dergleichen in einen Wust von Fabeln und Lügen *) verwickelt ist, sehe man doch wohl zu, ob nicht darunter Naturkräfte verborgen seien, wie im Zauber, in der Erhöhung der Einbildungskraft, in der Wirkung der Dinge in die Ferne, in der Einwirkung dss Geistes auf den Geist, wie des Körpers auf den Körper u. dgl." Wir sind geneigt, diesen Passus besonders auf die spielenden Kunststücke" des Shakespeare'schen Geistes **) zu beziehen, in welchen Magisches und Thëurgisches der angedeuteten Art, als Folge der Einbildungskraft, allenthalben, namentlich aber in den Dramen Hamlet, Macbeth, Cymbeline, Julius Cäsar, König Richard III., Sturm, König Heinrich VIII. etc. vorkömmt und als Symbol für Kräfte und Zustände erscheint.

Bei dieser Gelegenheit können wir nicht unterlassen, des Umstandes Erwähnung zu thun, dass Bacon in seinen Schriften und auch dort, wo er sich über das Theater seiner Zeit äussert, nicht ausdrücklich seines grossen Zeitgenossen Shakespeare's und dessen Kunstschöpfungen gedenkt.

Die widersprechendsten Annahmen sind sowohl mit Rücksicht hierauf, als überhaupt über das Verhältniss Shakespeare's zu Bacon geäussert worden. Während Einige beide Männer zu einerlei Person machen und andeuten, dass Bacon der eigentliche Schöpfer der Dramen sei, behaupten Andere (cfr. auch Gervinus „Shakespeare" II. 520), dass sie sich garnicht gekannt hätten.

Wir halten erstere Annahme für gänzlich unbegründet und letztere für unwahrscheinlich. Die nicht ausdrücklich geschehene Erwähnung Shakespeare's von Seiten Bacon's dürfte aus dem Grunde

*) Hinsichtlich dieser Art Lügen erinnern wir an die Controverse Hamlet's mit dem ersten Bauern als Grabmacher auf dem Kirchhofe über die, nach der Erklärung des Letztern scharfsinnige Lüge, welche sich in Hamlet lebendig darstelle. Ueber die Unwahrheiten und Paralogistik der Dichter cfr. Arist. Poet. c. 24, § 9.

**) Auf das ästhetische Spiel alludiren die Sonette 95, 96 und 121, durch das »gentle sport« und »sportive blood«.

zu erklären sein, dass ihm die Basis der dramatischen Dichtung Shakespeare's genau bekannt war, dass er wusste, dass derselben die Aristotelische Auffassung der Idee und Begriffsbestimmung zum Grunde lag und sonach bei seinen Bestrebungen, welche das Verdrängen des Aristotelischen Systems bezweckten, keine Veranlassung finden konnte, noch besonders auf die philosophischen Künste des Geistes nach diesem System aufmerksam zu machen, andererseits aber bei einer eingehenden Besprechung der Shakespeare'schen grossen Kunstschöpfung wohl nicht gut die Ursache der eigenthümlichen Gestaltung der Dramen unerwähnt lassen konnte. In Beziehung auf die Verhältnisse Beider an sich, und insofern sich daraus auf eine Bekanntschaft mit einander schliessen lässt, bemerken wlr noch Folgendes:

Shakespeare's Ankunft in London dürfte in das Jahr 1586 fallen. Er stand damals in dem jugendlich kräftigen Alter von 22 Jahren und wird sich bei seiner eminenten geistigen Begabung, die seine Dichtung voraussetzenden philosophischen, mythologischen, geschichtlichen, linguistichen etc. Kenntnisse, falls er dieselben nicht vorher sich schon erworben hatte, in der Metropole, wo er sich den wissenschaftlichen Apparat in den Bibliotheken leicht verschaffen konnte, in kürzester Zeit haben erwerben oder vervollständigen können.

Bacon war nur drei Jahre älter als Shakespeare. Aus einer alten adeligen Familie stammend, war er doch gänzlich vermögenslos und arbeitete in den Jahren 1587-92 in Grays Inn; 1590 konnte er erst erlangen, als Queens Counsel, ohne Salair, vereidigt zu werden und wurde er 1593 Parlamentsmitglied. Es ist bekannt, dass Bacon in diesen jüngern Jahren dem Theater seine besondere Aufmerksamkeit zuwandte und dass er sich selbst an theatralischen Aufführungen in Grays Inn einige Male betheiligte. Vom Grafen Essex, der auch Shakespeare's Gönner war, wurde er angelegentlichst protegirt; aber auch mit dem Freunde dieses Reichsgrossen, dem in dessen Fall verwickelten Grafen Southampton, der durch die besondere Gunst und Freundschaft, welche er Shakespeare schenkte, seinen Namen verewigt hat, war Bacon genau bekannt. Es erhellt diess unter Anderem aus einem Schreiben des Letzteren, welches er an Southampton in Veranlassung der Entlassung desseiben aus der gefänglichen Haft, in welcher er sich mehrere Jahre wegen Theilnahme an dem Vergehen seines Freundes Essex befunden hatte, richtete. Southampton gleich Essex zum Tode verurtheilt, war von der Königin zur Gefängnissstrafe begnadigt worden; der nach einigen Jahren erfolgende Thronwechsel ver

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