Das Bochmittelalter. Wir ersteigen nun den Höhepunkt mittelalterlicher Kultur. Es ist die Zeit der Früh- und Hoch-Gotik. Mit den Wissenschaften hält die Dichtung gleichen Schritt, nicht zuleht die liturgische, die religiöse Lateindichtung. Die Namen der Dichter von gutem Klange mehren sich; die Dichtungsformen werden reicher und reicher, die Rhythmik richtiger, die Sprache sanglicher, der Reim reiner. Bei den guten Dichtern des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts muß auch der männliche (jambische) Reim, den wir also nicht mehr als stumpfen Reim bezeichnen dürfen, zweisilbig sein. Wir können unter den Dichtern des Zeitabschnittes einige Gruppen bilden: eine erste, die um Hildebert von Lavardin als höchsten Gipfel sich lagert; eine zweite um Abälard. Es folgt der Kulminationspunkt der ge= samten liturgischen Dichtung in Adam von Sankt Viktor. Eine weitere Gruppe überragt Philipp de Grève; an dieselbe reihen sich eine Anzahl anderer, weniger hervorragender Dichter. Die Fülle des Stoffes zwingt uns leider, gerade bei Behandlung dieses wichtigsten Zeitabschnittes besonders auf Kürze zu finnen. Zu der Gruppe um Hildebert von Lavardin gehört vor allem Marbod, Bischof von Rennes († 1123), Baudri (Baldericus), Abt von Bourgeuil und Bischof von Dol († 1130), Reginald, Mönch von Saint-Austin Canterbury († 1109). Al diesen Dichtern ist mit Hildebert das eine gemeinsam, daß sie vorwiegend die klassisch-metrische Poesie pflegen, wenngleich Marbod und Reginald gern leoninische (gereimte) Hexameter schreiben, sowie, daß sie den Schwerpunkt ihrer Dichtung sehr wesentlich in die weltliche, oder religiös epische oder didaktische Poesie verlegen und sich nur sehr gelegentlich mit hymnischer Poesie beschäftigen. So besigen wir von Marbod eine Reihe von Hymnen und teils metrischen, teils auch rhythmischen Gebeten, bei welchen die Verschiedenheit, welche wir in der Form beobachten, leider nicht danach angetan ist, die Zweifel zu mindern, welche die überlieferung bezüglich der Authenticität zurückläßt. Von Baudri sind uns eigentlich nur einige wenige Hymnen auf den hl. Samson von Dol erhalten, welche ihm einen Anspruch geben, in der Liste der Hymnographen geführt zu werden. Reginald von Canterbury aber hat im letzten Buche seines Hauptwerkes, dem Leben des hl. Malchus, eine Reihe von Hymnen an Gott, an Christus, an das Kreuz, an den hl. Geist, an den Schußengel usw. zusammengestellt, die er sämtlich seinem Helden in den Mund legt. Diese Hymnen lassen Gefühl für dichterische Form und ein gewisses Feuer der Empfindung nicht verkennen und sichern dem Verfasser einen ehrenvollen Plaz in der großen Zahl der mittelalterlichen Dichter. Was von diesen dreien „um Hildebert" gilt, das gilt in erhöhtem Maße von ihm selbst. Hildebert gehört zweifelsohne zu den formvollendetsten Dichtern des Mittelalters; haben doch neuere Philologen Verse desselben in die Anthologie lateinischer Klassiker aufgenommen und als Produkte des Altertums mitgeführt, bis Hauréau fie auf den verhängnisvollen Irrtum aufmerksam machte. Haben wir von Hildebert nur wenig, was der hymnischen Dichtung zugezählt werden kann, so ist dafür eine dieser seiner Dichtungen, das Gebet zur hl. Dreifaltigkeit Alpha et O, magne Deus, eine der schönsten Perlen mittelalterlicher Dichtkunst überhaupt. Bezüglich der Lebensumstände Hildeberts, der 1057 Erzdiakon und 1092 Bischof von Le Mans, 1125 Erzbischof von Tours wurde und im Jahre 1133, ungewiß ob im Februar oder Juni, verstarb, verweise ich den Leser auf biographische Werke, um für diese seine ebenso theologisch tiefe als von warmem Gefühl durch pulste Dichtung den nötigen Raum zu ersparen: Nr. 26. A und O, Gott, Weltgestalter, Unser Morgen, Heut' und Nimmer Sohn, dem Vater gleich an Wesen, Nicht erschaffen, nicht geboren Geht der Tröster, auserkoren, Gleich dem Vater, gleich dem Sohne Aus von beiden, beider Krone, Was sie war, und sonder Schwanken, Den ich glaube, drin ich stehe, Zwar macht Todesschuld mich beben, |