Notker der Stammler. Erst Notker der Stammler (Balbulus) († 912) hat als erster die rhythmische Sequenzendichtung in die kirchliche Liturgie eingeführt und damit die Hymnendichtung von der bisher gepflegten altchristlichen Art loslösend, die mittelalterliche Rhythmendichtung inauguriert, die so reiche und schöne Blüten zeitigen sollte. Die Art wie Notker, von dessen näheren Lebensschicksalen wir nur dürftige Nachrichten haben, zur Sequenzendichtung angeregt ward, ist so oft beschrieben worden, daß wir uns der größten Kürze befleißen dürfen. Vergegenwärtigen wir uns, daß es zu Notkers Zeit keine bestimmte und eindeutige Notenschrift gab, daß vielmehr die Melodien im Gedächtnisse behalten werden mußten, und daß die Neumenschrift jener Tage, welche wohl die Notengruppen, sowie im allgemeinen das Steigen und Fallen der Melodie, nicht aber die genauen Intervalle zwischen den einzelnen Noten anzeigte, nur eine Gedächtnisstüße für den Sänger war. Besonders schwierig war es, dem Gedächtnisse solche Stellen einzuprägen, an denen auf eine Tertsilbe nicht eine oder zwei Noten, sondern ganze, oft zeilenlange Notenreihen (Melismen, Jubilationen) trafen. Dies war namentlich der Fall bei dem Alleluja am Schlusse des Graduale. Schon oft hatte Notker nachgedacht, wie diesem Verhängnisse zu steuern sei. Da er schien in St. Gallen ein Mönch aus dem nordfranzösischen Kloster Jumièges, das von den Normannen zerstört worden. In den Chorbüchern, welche er mit sich führte, sah Notker, wie einzelnen solcher Notenreihen Texte syllabisch unterlegt waren. Dies gab ihm Anregung, ähnliches zu versuchen. Er schob den tertlosen Melismen von ihm verfaßte Worte unter, so daß jeder Note eine Silbe des Textes zufiel und jeder Melodiephrase nicht ein, sondern zwei Terte (clausulae) entsprachen, die, wenn wir von späterer Übung auf frühere Gepflogenheit schließen dürfen, abwechselnd vom Knaben- und Männerchore vorgetragen wurden. Nachdem er mit Hilfe seiner Lehrer, des Jso und des Marcellus, die ersten Schwierigkeiten überwunden hatte, dichtete Notker Sequenzen für fast alle Feste des Kirchenjahres, gliederte sie in zwei Bücher und widmete fie, mit einem Vorworte versehen, dem Gönner seines Stiftes, dem Bischofe Luitward von Vercelli. Wir besizen Notters Sequenzensammlung, die sich in Deutschland bis zum Trienter Konzil, ja zum Teile über dieses hinaus behauptet hat, in zahlreichen handschriftlichen Exemplaren. Doch sind in fast allen diefer Sequentiarien spätere Zutaten, z. B. Sequenzen Ekkeharts und anderer, beigemischt, so daß es noch nicht über jeden Zweifel erhaben ist, wie viele und welche Sequenzen von Notker selbst herrühren. Doch ist die große Menge seiner Sequenzen bekannt und als authentisch erwiesen. Als ein Beispiel seiner Sequenzendichtung diene uns die Pfingstsequenz Sancti spiritus assit nobis gratia. Da die Notkerfchen Sequenzen sich wie Prosa lesen, werden sie doch deshalb auch ,,Prosae" genannt, habe ich für die Übertragung einen dem Orginal fich anschmiegenden Rhythmus gewählt. Nr. 18. 1. Heil'ger Geist, o wohn' uns bei, 2 a. Unsre Herzen weihe gnädig * Man findet diese Sequenz häufig dem Könige Robert dem Frommen von Frankreich zugeschrieben. Die Annahme ist völlig irrig. 2 b. Heil'ger Geist, du heilig hehres Licht, das in die Seele lacht, Ozerstreue unsrer Herzen schau'rig dunkle Geistesnacht! 3 a. Heilige Gesinnung liebest, Geist der heil'gen Liebe, du, Ströme deiner Gnade Salbung huldreich unserm Sinne zu. 3 b. Alles du von Sünde reinigst, o du Geist der Reinigkeit, Rein'ge unsres Geistes Augen, läut're, fläre sie allzeit! 4 a. Daß den höchsten Vater sie anzuschauen taugen, 4 b. Den alleine können schau'n reiner Herzen Augen. 5 a. Die Propheten du beseeltest, Daß sie Sänge ohnegleichen Sängen zu des Heilands Preis; 5 b. Der Apostel Schar du stähltest, Daß sie Christi Siegeszeichen Trügen durch den Erdenkreis. 6 a. Als der Vater durch sein Werde In das Dasein rief die Erde Und den Himmel und das Meer, 6 b. Ließ er ob den Wassern schweben, Sie befruchtend zu beleben, Deine Gottheit, Geist, daher. 7 a. Wasser beseelst du, daß sie den Seelen 7 b. Menschen verleihst du 8 a. Durch dein Walten ist die Welt Da sie Sprache, Sitte trennten. 8 b. Selbst den blinden Heiden nicht 9 a. Wolle denn gewähren 9 b. Ohne den verloren 10 a. Geist der Heiligkeit, 10 b. Du hast heut', der Schar Gaben wunderbar Spendend, wie es vordem 11. Diesen Tag verherrlicht Neben seinen Sequenzen pflegte aber Notker auch die Hymnendichtung. So verdanken wir ihm namentlich eine Reihe von Hymnen auf den hl. Stephan. Dagegen ist die viel nacherzählte Legende von der Entstehung des nachmals so berühmten Media vita (Mitten wir im Leben sind) spätere Erfindung. Neben Notker dem Stammler ist sein Freund (Tutilo († 898), der einflußreichste Erfinder der St. Galler Schule; denn er gilt als der erste Tropendichter, wenngleich sein Anspruch auf diese Ehre nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Wir haben in der Einleitung auseinandergesezt, was ein Tropus ist. Tutilo verfaßte solche Einschiebsel hauptsächlich zu dem Eingang der Messe (Introitus). Später, als die Tropen beliebt und immer verbreiteter wurden, dichtete man solche zu fast allen Teilen der Messe, zum Introitus, zum Kyrie, zum Gloria, zur Epistel, zum Graduale, zum Alleluja nach dem Graduale, nie zum Evangelium, sehr selten zum Credo, wohl aber zum Offertorium, zum Sanktus, zum Agnus Dei, zur Postkommunion. Die Tropen zum Kyrie und zum Gloria sind nicht selten im heroischen oder elegischen Versmaße geschrieben und stellen umfang= reichere Dichtungen dar, die oftmals auch von poetischem Werte sind. Die kleineren Tropen erwecken dagegen in der Regel mehr liturgisches als literarisches Interesse. Um wenigstens einen Begriff zu geben, wie diese Tropen aussahen, will ich ein ganz kurzes tropiertes Ite missa est hier anfügen: Ite, Benedicti vos missa est. Ein tropiertes oder Übersetzung wie folgt:** Deo, Qui fecit caelum interpoliertes Gloria lautet in *Gehet, Gesegnete im Herrn, die Messe schließt. ** Der tropierende Text ist in gewöhnlicher, der tropierte in gesperrter Schrift gegeben. |