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Der Schöpfung Bildner und Vollender, der
In seiner Hand so Tod als Leben trågt,
Um Leben abzuwågen, auszuspend‹n,
Und reicher zu erneun und herrlicher!
Dazu verleih die große Mutter ihm
Ihr Wohnhaus; zu ersetzen was gebricht,
Zu ordnen es und zu befeligen.

Sein Werk ist neue Schöpfung; seine Kunst,
Sein Ziel die Bildung edlerer Natur.

Durch Ihn, durch Ihn nur blüht Hesperien!

5.

Fabel.

Eine Lehre will Anwendung, mithin der Vortrag einer Lehre Darstellung, Einkleidung. Man muß wissen, wie sie sich beurkunde, und wo möglich durch sich selbst bewähre. Dies ist der Grund der sogenannten åsopischen Fabel; zum bloßen Zeitvertreib ward sie nicht erfunden.

Menschen wollen nicht immer gern von andern bes lehrt, geschweige zurechtgewiesen seyn; sie wollen sich durch Vorhaltung der Sache selbst belehren. Dies that die Fabel. In ihr wird eine Handlung darges stellt, die durch sich redet; sage jeder sodann die Lehre sich laut oder still in der Seele.

Und wer könnte uns zu diesem Zweck gewiffere Lehren geben, als die Natur? Ihr Gang ist vest, ihre Gesetze sind beständig. Die Cypresse und Ceder, der Palmbaum und Ysop, was sie vor Jahrtausens den waren, sind sie noch. Auch die Wirkung der Elemente auf sie hat sich nicht verändert. Der Wolf, der Fuchs, der Tiger sind gleichfalls was sie waren und werden es bleiben. Die Haushaltung der Nas tur geht fort nach ewigen Gesehen, in unveränders lichen Charakteren.

Und an ihr hat sich der menschliche Verstand, ja die Vernunft selbst zur Regel gebildet. Ginge

Herders Werke s. schön, Lit. u. Kunst, XII,

es in der Schöpfung wie in einem Tollhause durch eins ander, daß Alles heut so, morgen anders wäre, daß kein Band der Ursachen und Wirkungen, keine Consequenz der Begebenheiten statt fånde: so fånde auch keine menschliche Vernunft statt; an sie wåre nicht zu gedenken. Daß uns aber allenthalben, unter allen Veränderungen, Bestandheit, Ordnung, Folge der Dinge vor, und einleuchtet, daß die Vers ånderungen selbst erkennbaren Gesehen und Regeln unterworfen sind, und der Mensch, das hülfs, bedürftige Geschöpf, von allen Seiten getrieben ward, diese Geseze auszuspåhen, dieser Ordnung, wenn er nicht unterliegen wollte, zu folgen; dieser schöne Naturzwang hat den menschlichen Verstand gebildet.

Die asopische Fabel stellet ihn dar. Sie beruht ganz auf der ewigen Bestandheit und Consequenz der Natur; Eines Theils, wie Jedes in seinem Charakter handle, andern Theils wie aus Diesem Das folge. Die schönsten und eigentlichen Fabeln sind also herausgerissene Blätter aus dem Buch der Schöpfung; ihre Charaktere sind lebendig fortwäh rende ewige Typen, die vor uns stehen und uns leh ren. Je gemäßer der Naturordnung ein Baum, ein Thier in der Fabel erscheint, so daß, wenn ihm die Sprache gegeben würde, es in solcher Zusammen. stellung nicht anders sprechen und handeln könnte, je Naturmäßiger die Zusammenstellung der Dinge selbst, auch nach kleinen Umständen in der Fabel ist,

um so mehr wird sie nicht etwa nur anmuthig, sons dern überzeugend. Mit süßer Naturgewalt zwingt sie uns die Lehre, die sie in That zeigt, anzuerkennen, indem kein Geschöpf sich dieser großen Kette entziehen kann und menschliche Vernunft eben darinn besteht, Ordnung der Dinge anzuerkenuen, und sich ihrer Consequenz zu fügen.

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So betrachteten alle Naturvölker die Fabel. Sie war ihnen ein Lehrbuch der Natur, dem nur ein Schwacher oder Frrer zu widersprechen wagte. Deßhalb richteten auch die bei Gelegenheit gesagten Fabeln bei der Menge so viel aus. Die Fabel Jothams von den Bäumen, die einen König begehrten, die Fabel des Menenius Agrippa vom Zwist zwischen Gliedern des menschlichen Körpers brachten verworrez ne politische Situationen unter die Regel einer hellen Natur- Ansicht; die Menge ward überzeuget. Deß, halb sprachen nicht etwa nur Morgenländer, fondern, wo es die Gelegenheit zuließ, auch Griechen, Rdmer, ja alle Nationen der Welt in diesem Fabels

entweder ausdrücklich, oder mit kurzer Anspies lung auf diese und jene gleichsam ausgemachte, unwiderstreitbare Fabel. Die Sokratiker, Horaz in. seinen Briefen und Satyren, Redner ans Volk, Staatsmänner und Moralisten liebten sie; und je vertrauter ein Volk mit der Natur lebte, je heller es ihre Ordnung anerkannte, je treuer es sich derselben fügte, desto mehr hieng es an der Darstellungsart tref

fender Naturfabeln. Ihnen traute man es zu, ihnen legte man das Geschäft auf, den Verstand und die Eitten junger Menschen der großen Naturordnung gemäß zu bilden.

So dachten Sineser, Indier, Ebråer, Perser, Araber, Griechen und Römer! von allen diesen Nationen ward die Fabel als ein Werkzeug zu Bildung des Verstandes und der Sitten betrachtet: denn was ist Verstand (intellectus, understanding) als Anerkennung der bestehenden Naturordnung und Naturfolge? was sind Sitten, als ein Benehmen, das sich dieser Ordnung füget? Die Fabel,

Dum varia proponit oculisque subjicit
Exempla, monitis arguit salubribus
Cuiusque vitam; quas et ipsa condidit
Natura, sanclas usque leges suadet.

Oder wie Phädrus sagt:

Exemplis continetur Aesopi genus,

Nec aliud quidquam per fabellas quaeritur,
Quam corrigatur error ut mortalium,
Acuatque sese deligens industria.

Die trefliche Indische Fabelsammlung a) hat einen ganzen Curs der Lebensweisheit für einen Prinzen unter vier Abtheilungen:

1. Die Bewerbung um einen Freund,

2. Die Trennung von einem Günstlinge,

a) The Hectopades of Vishnu. Sarma, by Wilkins. Bath 1787. Die trefliche Sammlung wird bald überseßt erscheinen.

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