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Lehr gedichte.

Eine Sammlung von Bemerkungen und Lehrsprüchen, in ein Sylbenmaas gebunden, pflegt man ein Lehrgedicht zu nennen; glücklich, wenn ihm auch die innere Anordnung und Fortleis tung der Gedanken nicht fehlet, Sonst werden die gereimten Sentenzen eine Heerde, die in Gruppen weidet; ihre Glocken klingen durch einander; und meistens springen Böckchen hie und da hervor. Denn in die meisten Lehrgedichte mischt sich Satyre.

Boileau und Pope waren zu Anfange des vers floffenen Jahrhunderts die großen Lehrdichter des Auslandes; ihre Namen sind noch als solche berühmtBeiden war Horaz Vorbild, dem sie auch), jeder in seiner Weise, fast in jeder Art seiner Werke nachs folgten: denn wie Horaz schrieben Boileau und Pope moralische Briefe, Satyren, Oden, eine Dichtkunst in Versen, und thaten beide noch ein komisches Heldengedicht dazu. Schwerlich aber hat weder der Britte noch der Franzose des Römers mo, ralische Grazie, seine leichte Manier, seine hohe Urs banität erreichet. Beide also, so schäßbar sie sind, machen uns Horaz nicht entbehrlich.

Beide indeß sind Gesetzgeber ihrer Nation in Vernunftreimen über Geschmack und Sitten

Herders Werke z. schön. Lit. u. Kunst. XII.

D

worden. Wer von der alten echten französischen Schule, wußte nicht Boileau's Dichtkunst und einen großen Theil seiner andern Verse answendig? Wer von der alten englischen Schule lernte Pope's Essay on Criticism, seinen Versuch über den Menschen und viele seiner moralischen Sentenzen nicht eben so? Sie galten für die sprechende Vernunft und Moral in Reimen.

Und sie sinds wirklich; Pope in feiner gedrångten Kürze, Boileau n seiner wasserhellen Klarheit. Dieser überladet Niemanden; Verse, wie er schrieb, konnte jeder Höfling verstehen, lernte jeder Mann von Geschmack recitiren. Dazu sind sie eingerichtet; in der Stellung und Wahl der Worte, im Accent, oft im Reim liegt das Scharfe oder das Gefällige des Stachels, der Pointe. Ueberseßt in andre Spras chen (wie Boileau denn oft und früh in unsre Spras che überseßt ist) lieset man großentheils nichts als sehr wahre und sehr gemeine Gedanken. Daß Boileau sie in seiner Sprache so scharf bestimmt, so gewählt und zweckmäßig sagte, dies macht sein Verdienst, worinn er sogar dem Britten vorgeht. Dieser hin. gegen übertrift ihn weit an Tiefe des Sinnes und in Gedrungenheit der Sentenzen. Auf Zuneigung unsers Herzens macht wohl Keiner von Beiden Ans spruch; man liebt und hasset sie wechselsweise. Ins dem man ihren lehrreichen Verstand hochschäßt, wird man oft unwillig über ihre ungerechte oder hämische.

Satyre. Ueber Boileau ist der Ausspruch des nie aufgebrachten, gleichmüthigen Fontenelle bekannt: ,,mit Lorbeer bekränzt, schicke man ihn auf die Gas lere."

Die Werke beider Dichter indeß, insonderheit mit ihrem historischen Commentar, sind ein Parnaß der damaligen Zeit, der Sprach und Gedankenschäße, beider Nationen. An welch Heiligthum könnte sich die Poesie vester und sicherer schließen, als an Verz nunft und Moral? Boileau's Dichtkunst, Pope's Criticism werden gelesen werden, so lange beide Sprachen dauren.

Nebst der Dichtkunst wagte sich das Lehrgedicht auch an andre Künste, die Zeichnung, Mahlerei, Gartenkunst, den Feldbau u. f. Des Du Fres noi's, Rapin's, Vanier's und andrer lateinische Ges dichte a) über diese Künste sind bekannt, die, weil sie alle mittelmäßig sind, mit der Zeit übertroffen wurs den. Bei Engländern und Franzosen werden wir in der Mitte und am Ende des Jahrhunderts Kunst, gedichte finden, die an Virgils Bücher vom Landbau näher als Philipps oder die Vorgenannten reichen.

Auch wissenschaftlicher Systeme bemächtigte sich

a) Du Fresnoi de arte graphica Par. 1697. Rapini hortor. L. IV. Par. 1666. Vanierii praedium rustic. Tolos. 1706. Marsy, Waceler u. f. gehören in spåtere Jahre.

die Verskunst. Von Bayle's Zweifeln geårgert verfificirte der Cardinal Polignac feinen Antilucrez, a) ein beredtes Werk, dem es aber an Lucrezischem, d. i. echtem poetischen Geist fehlet. So hart und schmer, zend Epicurs System beim Römer in vielen Stellen ist: so erschüttert uns doch von Grund aus des Dich ters Stärke, seine innige Freude, über das was Er Klarheit der Seele, Erhabenheit über alle Schrecken nennet; und in dem, wo seine Verse wirklich die Nas tur der Dinge, Wahrheit enthalten, wie eindringend sind sie in ihrer rauhen Größe! Den Heldenbildern Griechenlandes im sogenannt heiligen Styl åhulich.

Mit allem Reichthum neuerer Entdeckungen dagegen, mit der ganzen Philosophie Des Cartes, Kepler's, Newton's und andrer ausgerüstet, ja ob er gleich Gott und die Wahrheit selbst zu vertheidigen anstrebt, ist des Cardinals Gedicht größtentheils doch nur eine schöne Declamation in lateinischen Versen. Es ist unvollendet; hätte er aber auch seine drei Ges

a) Melchioris de Polignac Anti-Lucretius, L. IX. Par. 1747. Der Cardinal hatte das Werk auf seiner Rückreise aus Pohlen 1697 angefangen; es erschien erst nach seinem Tode durch den Abt Charles d'Orleans de Rothelin, der es dem Pabst Benedic 14. dedicirte. Eine deutsche prosaise Ueberseßung ers schien (Breslau 1760) von Schäfer mit Vorreden und Eins leitungen der Pariser Ausgabe. Lobreden über den Cardinal haben De Boze in der Akademie der Inscriptionen, Mairan in der Akademie der Wissenschaften gehalten. Ein Nachdruck des lateinischen Werks mit Gottscheds Vorrede erschien. Lpz. 1748. Auch ins Italienische ist der Antilucrez überseht worden.

sänge hinzugethan, der fehlende poetische Geist konnte durch sie nicht erseht werden. Fontenelle's Ges spräch von mehr als einer Welt enthalten mehr Poesie über einen Theil des Cartesianismus, als Poo lignacs neun Bücher, denen überhaupt auch der wis dersprechende, streitende Ton, in dem sie abgefaßt sind, schabet. Wer uns ein System oder die Mos ral dichterisch lehren will, trage fie uns rein, als eine Offenbarung der Musen vor, nicht streitend.

So schön und schönere Darstellungen philosophis scher Systeme wir mit dem Fortgange des Jahrhunderts auffinden werden; woher kommts, daß noch kein System neuerer Philosophen, (einzelne Theile und Hypothesen ausgenommen) eine Darstellung gefunden hat, auf welche, wie auf Lucrez die Zeit das Siegel der Vollständigkeit, der unübertreflichen Schöns heit gedrückt hat? Nicht an den Dichtern, dünkt mich, lag es, sondern an den Philosophen, weil ihre Systeme selten so vollständig überdacht, so rein aus, gedrückt waren, als die vielleicht mangelhaftern Sya steme der Alten. Erscheint einst ein solches System, sind die Wahrnehmungen der Astronomie und gesams ten Naturlehre, der Chemie und gesammten Naturs geschichte, so wie die Geschichte des Menschen von innen und aussen so gebunden und geordnet, daß in Allen die höchste Reinheit und Einheit, ein Unendliches an Folgen in jedem Punkt erscheinet; kein Zweifel, ein solches System ist selbst die reinste

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