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3. Menschliche Begebenheiten und Charal. tere sind indeß das, was, wie allenthalben, so auch im Mährchen am meisten anzieht; dies tritt uns hiedurch am nächsten. Wie sonderbar spinnen und weben sich oft die Schicksale eines Menschenlebens! An wie kleinen Knoten hangt ihre Verwicklung und Entwicklung! Wer knüpfte diese Knoten? welche unsichtbare Hand leitete und verschlingt die Fåden? Sinds Genien? Schußgeister? Alfen? gute und böse Feyen?

Und da zuleßt doch an den Charakter des Men' schen, oft an seine Gestalt, an eine Eigenheit seiner Person oder seines Benehmens, an eine Neigung oder Gabe sich Alles knüpft; wer gab ihm dieses Talent ? diese ihm selbst oft unerklärliche, sonderbare Neigung? dies Auszeichnende seiner Gestalt? wer prägte seinen Charakter?

Und wenn gerade dieser Mensch, jener Ort, dies Geschäft oder Moment in Glück und Unglück über sein Schicksal entschied, mithin ihm wiederholt fatal wurde; wer führte ihn dahin? wer brachte diese Mens schen, diese Umstände und Momente ihm entgegen, da er sie oft sorgsam vermied? Die Bildung oder Miss bildung menschlicher Charaktere, das Weben ihrer Schicksale find. Iso der reichste Stoffzu Mähr. chen: denn nach Jahren, wenn wir uns im Spiegel anschaun und unser Leben überdenken, sind wir uns nicht selbst Mährchen?

4. Die Schicksalsfabel sowohl, als das mensch

liche und das Kosmogonische Naturmährchen sind von der Menschheit also fast unzertrennlich, die Ersten beiden sind uns die unterhaltendsten; in den dunkeln Zeiten knüpfte sich beinah jedes ausgezeichnete Geschlecht an ein Familien- Mährchen, an ein Local, zuleht an die Weltentstehung selbst, wenn man irgend so weit aufreichen konnte.

Und da in unserm Leben das Größeste, meistens theils am Kleinsten hängt, da Scherz und Spott, List und Jutrigue, Lüsternheit und Rachsucht oft bewir ken, woran der nüchterne Sinn kaum denket; und da gerade diefe Gattung Mährchen vielen die angenehms ste ist, so ist sie auch natürlich die zahlreichste worden. Neuheit ist überhaupt die Seele der Erzählung; des Mährchens Tod ist Langeweile.

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Von Orient und Griechenland aus war also das Gebiet der Mährchen von großem Umfange; es theils te sich bald in die verschiedensten Felder. Die ruhigen Morgenländer liessen und lassen sich gern erzählen; ihr Klima, ihre Lebensweise, ihre Neigung fürs Wunderbare, ihre unbequeme Schrift und andre Urs sachen begünstigten das lebendige Erzählen; die Geschichte selbst, zuweilen eine unlängst geschehene Geschichte ward daher im Geist und Munde der Mors genländer selbst Mährchen. Denn muß es nicht jede mündlich fortgepflanzte, oft erzählte Sage bald wers

den? Jeder Erzählende seht zu und läßt aus, er vers stärkt Umstände, er schmückt und hebt, legt dort und hier seinen Sinn, seinen Charakter hinein; er rüns det. Nun wälze sich die Sage Zeiten hinah von Mund zu Mund, von Geschlecht zu Geschlechte; was kann der Morgenländer anders haben, als was er hat, Ges nealogieen und Mährchen? Der Bau seiner Sprache, feine Sitten und Gebräuche, oft die Namen der Pers sonen und Sachen selbst sind dazu eingerichtet. Auch sind die morzenländischen großentheils die wahren, genialischen Mährchen, aus der lebendigen Welt, wie ein Traum der Phantasie genommen, dem Ohr des Hörenden angemessen, frei vom Bücherstaube sowohl als von zu feinen Speculationen. Sie gehen ihren großen Schritt zwischen Himmel und Erde.

Die Griechen gaben dem kosmogonischen sowohl als dem genealogischen Götter und Heldenmährchen den Gang und Klang des Epos; aus keiner andern Ursache ward der Hexameter ihr Sylbenmaas, als weil er, ihrer Sprache natürlich, die verschiedensten, die freiesten Erzählungsweisen zuläßt. Das griechis she Epos war seinem Ursprunge nach nichts anders als eine gesungene Sage; die Kunst daran mußte der zusammenfassende Sinn und Gesang des Erzähleuden, mithin die Zeit formen.

Als aus dem Epos erzählender Sänger das Mähr. dhen aufs Theater trat, bekam es eine andre Gestalt; eine andre bei lyrischen und Idyllendichtern,

eine andre in der Schule der Philofophen. Zuleht als es zur Prose hinabsank, theilte es sich in verschiedne Arten, unter denen natürlich die Liebe, als Weber, inn, und Verweberinn menschlicher Schicksale die Oberhand gewann. Die Geschichte des Theagenes und der Chariklea, Klitophons und der Leucippe, Daphnis und der Chloe, der Anthia und des Abrokos mas, des Cháreas und der Kallirhoe, obwohl in spås ten, zum Theil ungewissen Zeiten geschrieben, wurden, ihrer Fehler ohngeachtet, Muster und Anfang einer zahlreichen Gattung von Erzählungen, die man spås terhin Romane nannte. Das Muster aller griechis schen Liebesschicksal - Romane war die Geschichte Amors und der Psyche; diese wird auch auf alle Zeiten hinab ihr schönes Kunsts Vorbild bleiben.

Da es hieher nicht gehört, den Gang des Mährs Hens und der Erzählung unter Morgen- und Abends Ländern, unter Juden, Heiden, Moslims und Chris ften, unter diesen in den dunklen Jahrhunderten Eus ropa's in Spanien, Italien u. f. zu verfolgen; so haben wir hier nur vorerst zu zeigen, wie sie das vorige Jahrhundert empfing, wozu im Zeitalter Ludwigs, das dem ganzen Europa Ton gab, auch das Mährchen, die Erzählung, der Roman wurde.

Alles ward in ihnen galant und hofmåßig. Rein in der Sprache, licht in der Darstellung, rascher

in der Erzählung, von alten Sittensprüchen wie von der abgekommenen Ritterrüstung entladen; dagegen einem Gesellschaftssaal, einem Gespräch, oder Besuchs zimmer, gar etwa einer Liebeskammer, nach damas liger Sitte, angemessen; unterhaltende Artigkeit ward ihr Charakter. An Urfei's Astråa und ähnlis chen Schäferromanen verlohr man den Geschmack; Zaide, die Romane der Villedien, der Castelnau u. f. traten an ihre Stelle. Im heroischen Styl gins gen Calprenede und die Scuderi allmålig unter; sogenaunt historische Romane thaten sich dagegen in Menge hervor; und abermals waren Frauen, die Lussau, Durand, la Force, la Fayette u. f. dieser Gattungen Meisterinnen und Muster.

Unselig, daß man allmålig, von diesem Geschmack geleitet und fortgeleitet, mit sovielen romantischen Memoirs, ein Drittheil Wahrheit, zwei Drittheil Lüge, die Welt getäuscht hat. Die berühmtesten Nas men des Alterthums sowohl als der mittleren und neuern Geschichte, Pindar und Korinna, Sappho, Kleopatra, Artemisia, die Bestalen, Catull, Tibull, Horaz, Tullia, Eloise, Marie von Bourgogne, Margarethe von Valois, der Connetable von Bours bon, Admiral Coligni, Turenne, Colbert und so viel andre a), Männer und Weiber sind nach und nach mit dieser romantischen Schminke so geziert und

a) Les Amours de Pindare et de Corinne, de Sappho, d'Horace, Catulle, Tibulle, d'Abeillard et d'Eloise ete. etc.

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