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DIE TENDENZ

VON CICEROS ORATOR

VON

SEBASTIAN SCHLITTENBAUER,

DR. PHIL.

Die Tendenz von Ciceros Orator

von

Sebastian Schlittenbauer.

Einleitung.

In den meisten Werken über römische Litteratur wird als Zweck von Ciceros Schrift „Orator" die Absicht des Verfassers hingestellt, ein detailliertes Idealbild des vollendeten Redners zu entwerfen. Bei dieser Angabe stützt man sich auf Ciceros eigene Äufserungen. Denn an nicht wenigen Stellen bekundet dieser ausdrücklich sein Bestreben, nicht rhetorische Vorschriften zu geben (§ 43, 123), sondern zu zeigen, quae sit optima species et quasi figura dicendi (§ 2), quale sit illud summum et perfectissimum eloquentiae genus, cui nihil addi possit (§ 3), quod sit illud, quo nihil esse possit praestantius (§ 7). Cicero will uns vor Augen führen veram illam et absolutam eloquentiam (§ 17), excellentis eloquentiae speciem et formam (§ 43), das genus ipsius orationis optimum (§ 52) oder illum perfectum (sc. oratorem), quem nunquam vidit Antonius aut qui omnino nullus fuit (§§ 19, 100). Ähnlich drückt er sich aus §§ 44, 45, 47, 59, 69, 113.1)

Demnach scheint sich Cicero in seinem Orator wirklich zur Aufgabe gemacht zu haben, das Idealbild des vollendeten Redners zu zeichnen. Aber eine nähere Betrachtung des Inhaltes und der Komposition legt dem einsichtigen Leser sofort den Gedanken nahe, dafs Cicero im Orator nicht ein allgemein giltiges Idealbild entworfen hat, sondern ein Idealbild, das sich in jeder Beziehung an seine eigenen rednerischen Vorzüge anschliefst. Ein objektives Idealbild konnte und wollte Cicero nicht geben. Er konnte es nicht, weil er mitten im Kampfe litterarischer Parteien stehend dazu nicht die notwendige Ruhe und den erforderlichen ungetrübten Blick besass; er wollte es nicht, weil er in ein solches Bild manche Züge hätte aufnehmen müssen, die seinen eigenen Reden fehlten. Die Aufnahme solcher Züge aber hätte seinen Ruhm verdunkelt zu einer Zeit, wo es für ihn galt, denselben gegen eine Menge litterarischer Gegner zu verteidigen.

1) Siehe Piderit, Cic. Or. p. 3 f.

Dafs das im Orator gezeichnete Musterbild ein subjektives sei, ist schon vordem von bewährten Autoren1) ausgesprochen worden. Aber man hat dabei den Begriff „subjektiv“ zu enge gefasst. Man erblickte im Orator jenes Idealbild, das den Anschauungen Ciceros entsprach, jenes Idealbild, dessen individuelle Züge wir in Ciceros eigener oratorischer Praxis verkörpert finden. Von diesem Standpunkte aus hat man die einen so breiten Raum einnehmenden polemischen Erörterungen mehr als Episoden angesehen. Ich gehe in meiner Auffassung des Orator weiter und sage: Der Orator ist in höherem Grade subjektiv, er ist das Produkt eines litterarischen Streites und stellt seinem Charakter und seiner Komposition nach eine polemische Tendenzschrift dar, gerichtet gegen alle Feinde der ciceronianischen Beredsamkeit, besonders gegen die,,Neu-Attiker“ und deren Verbündete unter den Grammatikern. Nächste Absicht Ciceros ist, die Angriffe dieser litterarischen Widersacher abzuweisen und ihnen gegenüber seine Vorzüge ins richtige Licht zu stellen; seine weitere Absicht ist, den Brutus von der Schar der Attiker zu trennen und für seine Anschauungen zu gewinnen.

Dafs in diesen beiden Zwecken die wahre Aufgabe des Orator enthalten ist, wird klar werden, wenn wir die damaligen Strömungen auf dem Gebiete der Beredsamkeit verfolgen und untersuchen, wie sie sich zu Cicero und Cicero sich zu ihnen stellte.

I.

§ 1. Bevor wir auf den Kern unserer Aufgabe eingehen, dürfte es sich empfehlen, in aller Kürze Ciceros Stellung zu der damaligen Entwicklung der politischen Verhältnisse ins Auge zu fassen, weil wir auch daraus ein Bild gewinnen von dem subjektiven Geiste, in welchem Cicero seine rhetorischen Schriften überhaupt, insbesondere aber den Orator geschrieben hat.

Noch in jungen Jahren, zu einer Zeit, da Hortensius das Forum beherrschte, hatte Cicero durch seine erste öffentliche Kriminalrede für Sextus Roscius aus Ameria sich beim Volke so sehr empfohlen, dafs er mit einem Schlage einer der gefeiertsten und gesuchtesten Anwälte wurde.) Als designierter Ädil hatte er durch das patrocinium Siciliense den Hortensius aus dem Felde geschlagen und damit in Rom die höchste Stufe der Beredsamkeit erklommen. Im Jahre seiner Prätur hatte er durch eine glänzende Rede vor dem Volke den Oberbefehl im Kriege gegen Mithridates an Pompeius gebracht; als Konsul hatte er durch seine Umsicht die hochverräterischen Pläne Catilinas entdeckt und durch die Macht seiner Rede gebrandmarkt,

1) Otto Jahn, Cic. Or. XXVIII ff.; Piderit, Cic. Or. Einl. § 11-18. 2) Cicero, Brut. 312.

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