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Zweckmäßige Wahl der Musikstücke.

will, und was die „schwierigen Chöre, namentlich die Fugen," betrifft, so erscheinen sie wohl bei einer mangelhaften, aber nicht bei einer volltommen guten Aufführung als jenes verworrene Durcheinander von Tönen, wie man sie so oft darstellt; und purer Eigenfinn wäre es, wenn man die fugirten Chöre eines Bach oder Graun aus der Kirche verbannen wollte, bloß weil sie fugirt sind.

Aus dem Bisherigen ergiebt sich demnach, daß unter der Vorausseßung einer würdigen Aufführung keine Kirchencomposition ihrer äußeren Form wegen zurückzuweisen ist, und es lediglich auf ihren inneren Charakter ankommt, ob sie sich für den kirchlichen Zweck eigene, oder wegen ihrer frivolen Lüsternheit in den heiligen Hallen keinen Plag verdiene.

Allerdings ist aber hier etwas vorausgeseßt, was sich nicht überall findet, ja, was der gelehrte, kunstsinnige Fetis, wie wir aus seinem Bericht über die Italienische Kirchenmusik (in der Gazette musicale, 1842) erfahren, selbst in den bedeutendsten Kirchen des auf seine Musik so stolzen Italien nicht gefunden hat. Er hoffte in der Kathedrale zu Mailand jene alte vierstimmige Musik ohne Orgel- und Orchesterbegleitung zu hören, die zu Anfang des XVI. Jahrhunderts von verschiedenen Meistern für diese Kirche componirt worden war, und die noch Burney bei seinem Aufenthalt in Mailand (1770) gehört hatte. Er hörte nichts davon, wohl aber dafür in einer anderen Kirche einige Donizettische und Bellinische Arien, denen ein lateinischer Text untergelegt war, mit Pianoforte- und Harfenbegleitung, als musikalische Ausstattung der Leichenfeierlichkeit für einen verstorbenen Künstler. In Nom hörte er in der Jesuiterkirche eine Musik,,,die nicht flacher, elender, erbärmlicher und unkirchlicher sein konnte." Der Styl war der niedrigsten Kneipe würdig, und die Ausführung dem Styl vollkommen entsprechend. Und als Fetis gegen seine Römischen Freunde mit Entrüftung äußerte, daß er nicht begreife, wie man in einer der schönsten und prächtigsten Kirchen Roms eine solche Entweihung dulden könne, ward ihm nur geantwortet: Die Väter Jesu kennen ihr Publikum; gerade eine solche Musik zieht es an, während eine wahrhaft geistliche es zurückscheuchen würde. Ja selbst in Betreff der Musik in der päpst= lichen Kapelle hörte Fetis von dem Abbate Baini die Klage:,,Eigentlich besigen wir von der echten Kirchenmusik gar nichts mehr, weder Sänger, noch Componisten, und noch weniger eine Schule. Alles ist zerstört und vernichtet, und die päpstliche Kapelle ist nur noch ein Schatten von dem, was sie einst war. Verlorene Stimmen lassen sich nicht wieder ersehen, und fänden sich selbst die Stimmen wieder, so wäre doch die Wissenschaft des Gesanges nicht mehr vorhanden, die ehedem den päpstlichen Sängern wie angeboren war, und die Zeit ist nicht mehr fern, wo es mit der Aufführung von Palestrina's Musik zu Ende sein wird." Nach solchen Mittheilungen und eigenen Erfahrungen über den Zustand der Italienischen Kirchenmusik in neuerer Zeit konnte sich Fetis auch eine Aeußerung Rossini's erklären, die ihn vorher befremdet hatte. Als er nämlich diesem klagte, daß er schon seit acht Tagen in Bologna verweile, und noch keine Kirchenmusit habe. hören können, antwortete dieser ihm nur mit seinem gewohnten

Rücksichten bei der Wahl derselben.

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feinen Lächeln:,,Glücklicher Sterblicher!" Und daß die stürmisch-bewegte gegenwärtige Zeit einer Hebung und Verbesserung der in Verfall gerathenen Kirchenmusik in Italien noch weniger günstig ist, bedarf kaum einer Andeutung.

Stehe es in dieser Beziehung aber auch noch so schlimm, nicht nur dort, sondern auch anderwärts; auf keinen Fall wird man hierin einen hinreichenden Grund finden dürfen, die Kirchenmusik ganz aus dem Gotteshause zu verbannen. Denn gerade hier ist das Schlechterwerden nur die unausbleibliche Folge des Seltenerwerdens, während treuer Eifer und fleißige Uebung immer vollkommenere Leistungen hoffen laffen, sobald nur bei der Wahl der Musikstücke, um der Aufführung willen, die nöthige Vorsicht angewandt wird.

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wenn

Da, wo es an einem genügenden Orchester fehlt, versteht es sich von selbst, daß man sich auf Vocalmusik zu beschränken hat, anders in diesem Fall von „Beschränkung" die Rede sein kann. Denn für wahre Kenner und Freunde der Musik, namentlich der geistlichen, giebt es nichts Höheres und Schöneres, als die reine Vokalmusik in künstlerisch-vollendeter Form, und den wunderbaren Zauber, den die harmonische Vereinigung glockenheller, seelenvoller Menschenstimmen auf das Gemüth ausübt, wird selbst die kunstreichste und vollendetste Orchestermusik nie hervorbringen. Indeß auch abgesehen von jenen Kunstleistungen, die seit den Zeiten Palestrina's die päpstliche und noch jezt die Petersburger Kapelle weltberühmt gemacht haben, werden selbst die einfachsten Chorgesänge, rein und schön vorgetragen, nie verfehlen, einen tiefen Eindruck auf das Gemüth zu machen, wie Jeder zugestehen wird, der den liturgischen Gesang im Berliner Dom zu hören Gelegenheit gehabt hat. Und wie zweckmäßig selbst einfache Choralmelodien benußt werden können, um den liturgischen Gottesdienst in musikalischer Hinsicht zu heben, sehen wir an den ,,liturgischen Gesängen" der Brüdergemeine.

Wenn als eine zweite Rücksicht, die man in Betreff der Kirchenmusik und ihrer Zulässigkeit zu nehmen habe, die Zeit genannt wird, so hat man dabei natürlich nur die bisherige Praris der evangelischen Kirche vor Augen. Denn in der griechischen Kirche sind die Gesänge des Chores ebenso sehr ein integrirender und wesentlicher Theil des Gottesdienstes, als die Gebete des Priesters, und von einer Rücksicht auf die Zeit fann hier keine Rede sein. Nicht minder ist dies in der katholischen Kirche der Fall, wo das Kyrie, das Gloria, das Credo, Das Sanctus mit dem Benedictus, das Agnus Dei und das Dona nobis pacem so wesentliche Theile der musikalischen Messe sind, daß teiner derselben wegbleiben kann. Nur das Graduale zwischen der Epistel und dem Evangelium, und das Offertorium nach dem Credo pflegt hier an minder festlichen Tagen weggelaffen zu werden. Anders aber ist es in der evangelischen Kirche, welche der früheren Ordnung des Gottesdienstes gemäß im günstigeren Falle nur nach dem Gloria und zwischen der Epistel und dem Evangelium, mitunter wohl auch nach dem Evangelium, in der Regel aber nur zwischen der Epistel und dem Evangelium ein Pläßchen zur Einschaltung eines Musikstückes offen ließ, das aber eben nur eingeschaltet wurde, und

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Kirchenmusik im protestantischen Gottesdienst.

darum ohne den geringsten Nachtheil wegbleiben konnte, weshalb es denn auch Niemanden befremden darf, wenn man die Kirchenmusik hier häufig als einen überflüssigen Lurusartikel ansah. Die Neue Preußische Agende ist ihrer Aufnahme in den Gottesdienst günstiger gewesen. Hier könnte, außer den bekannten kurzen Responsorien, dem Gloria und Sanctus des Chores, auch der Spruch nach dem Sündenbekenntniß, der Spruch vor dem Hallelujah, der Spruch nach dem Glauben, die jest entweder ganz weggelassen oder vom Geistlichen gesprochen und vom Chor nur mit einem kurzen Amen beantwortet werden, diesem leßteren zufallen, was, eine würdige Composition und eine ihr entsprechende Aufführung vorausgeseßt, dem Gottesdienst unstreitig einen gewissen festlichen Glanz verleihen würde. Hemmend

tritt einer solchen Ausstattung allerdings die ausdrückliche Bestimmung entgegen: "Der Hauptgottesdienst an Sonn- und Festtagen darf nie das Zeitmaß Einer Stunde überschreiten; hiervon wird eine halbe Stunde auf die Dauer der Liturgie mit dem Gesang der Gemeine zwischen derselben und der Predigt, und eine halbe Stunde auf die Predigt gerechnet." Denn bei einer so kurz zugemessenen Zeit versteht es sich von selbst, daß man sich auf die kürzesten und einfachsten Chorgefänge zu beschränken hat, von dem überreichen Schaß an trefflicher Kirchenmufit aber, die wir haben, kaum jemals im Gottesdienst Gebrauch machen kann. Und doch wäre es aus mehr als einem Grunde wünschenswerth, wenn auch jene größeren Werke unserer vorzüglichsten Kirchencomponisten nicht bloß in die engen Grenzen des Concertsaales eingeschränkt blieben, wo sie nur von den Begüterten, die den Eintrittspreis nicht scheuen dürfen, gehört werden, sondern wiederum, wie fie es ohnehin von Anfang an sein sollten, ein Eigenthum der Kirche würden, an dem sich der Arme mit dem Reichen gemeinschaftlich erfreuen könnte. Mit rühmlicher Auszeichnung muß in dieser Beziehung, nächst dem von Alters her durch die Leistungen seiner Thomasschule berühmten Leipzig, Breslau genannt werden, das durch seine zahlreichen Aufführungen von Kirchenmusik auch dem Aermften Gelegenheit giebt, jene Meisterwerke der Tonkunst in der für Alle offen stehenden Kirche zu hören, und es giebt, namentlich durch das Verdienst des für die Kirchenmusik Schlesiens unermüdlich thätigen Musikdirectors Siegert fast kein einziges von den bekannteren und besseren Oratorien, das nicht schon öfter in einer der Kirchen Breslau's öffentlich wäre aufgeführt worden. Ebenso verdienen hier die liturgischen Gottesdienste" genannt zu werden, die der Consistorialrath D. v. Gerlach in früheren Jahren von Zeit zu Zeit in der St. Elisabethkirche zu Berlin veranstaltete, und die auch hin und wieder Nachahmung gefunden haben.

Auf die Frage, ob die Kirchenmusik jeden Sonntag oder nur an hohen Festtagen stattfinden soll, kann natürlich keine allgemein gültige Antwort gegeben werden. Da, wo auch die einfachste Vocalcompofition nicht ohne fühlbare Mängel aufgeführt werden kann, wäre die Musik selbst an hohen Festen überflüssig, und ein Lied aus dem Gesangbuch besser. Kirchen dagegen, denen jederzeit die Mittel zu einer guten Aufführung zu Gebote stehen, wird man gern für jeden Sonn

Zulässigkeit fonntäglicher Kirchenmusik.

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tag den musikalischen Schmuck des Gottesdienstes zugestehen. Denn wenn man dagegen einwendet: „Die Leute würden dadurch zu sehr an die Musik gewöhnt, und kämen am Ende nur ihretwegen in die Kirche," so ist darauf ganz einfach zu erwiedern: „Diejenigen, welche nur der Musik wegen in die Kirche kommen, würden, wenn sie wegbliebe, ebenfalls wegbleiben; auf sie ist also gar keine Rücksicht zu nehmen." Welche Nachtheile es aber hat, wenn die Kirchenmusik seltener und immer seltener wird, lehrt am anschaulichsten Italien. Hier findet schon seit geraumer Zeit in den meisten Kirchen nur ein oder zweimal im Jahre eine Musikaufführung ftatt, während dies ehedem fast täglich geschah. Der Kapellmeister von St. Maria Maggiore in Bergamo theilte Fetis mit, daß sein kirchliches Amt ihn nur einen Tag im Jahre beschäftige, und zwar den 15. Auguft, am Fest der heiligen Jungfrau; die ganze übrige Zeit habe er weder in der Kirche, noch für sie etwas zu thun. In gleicher Weise äußerte sich der Kapellmeister von St. Markus in Venedig. Darf man sich über den Verfall der Kirchenmusik da noch wundern?

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Epistel und Evangelium.

IX.

Die Epistel und das Evangelium.
Die Collecte.

Von dem Zweck und der Bedeutung des Vorlesens der heiligen Schrift beim Gottesdienst ist schon in der Einleitung die Rede gewesen, und dort bereits auch der Grund angegeben, warum die vormals üblichen vier Lectionen späterhin auf zwei, die Epistel und das Evangelium, reducirt wurden.

In den frühesten Zeiten waren, wie sich von selbst versteht, die Christen zunächst auf die Bücher des Alten Testaments angewiesen, die auch bei ihnen in göttlichem Ansehen standen, und um so fleißiger gelesen wurden, je mehr sie, der christlichen Auffassung zufolge, faft auf jeder Seite von dem, in Chrifto erschienenen Messias Zeugniß geben. Ziemlich bald jedoch kamen zu diesen alttestamentlichen Schriften die apostolischen Briefe, und gewiß säumte keine Gemeine, wenn ein solcher Brief an sie gelangt war, ihn auch den benachbarten Gemeinen mitzutheilen, zumal, wenn sie in dem Briefe selbst dazu aufgefordert worden war. (1. Theff. 5, 27.; Koloff. 4, 16.)

Einer etwas späteren Zeit gehören, der schriftlichen Abfaffung nach, die Evangelien an. Denn anfangs war es bekanntlich entweder der Apostel selbst, oder der ihn begleitende Evangelist, der diesen oder jenen Abschnitt aus dem Leben des Erlösers, wie er ihn eben als Grundlage zu den weiteren Belehrungen brauchte, in schlichter Weise den Zuhörern erzählte; und diese Erzählungen pflanzten sich von Mund zu Mund weiter fort. Indeß dachte man doch auch, wie der Eingang des Lukas - Evangelii lehrt, schon frühzeitig an die schriftliche Aufzeichnung dieser Erzählungen, theils, damit sie weder vergessen, noch beim Weitererzählen verfälscht würden, theils, weil man sie mög lichst vollständig in chronologischer Ordnung bei einander haben wollte; und das Alterthum kannte außer den vier kanonischen Evangelien noch eine Menge anderer, von denen das sogenannte „Evangelium der Hebräer" am öfterften genannt wird.

Dieses war, nach dem Zeugniß des Hieronymus (Comment. in Matth. XII., 13.), der es ins Griechische und Lateinische überseßte, in der syrochaldäischen Volkssprache, mit hebräischen Buchstaben geschrieben, und besonders bei den Nazaräern und Ebioniten im Gebrauch; von den Meisten wurde es für das ursprüngliche Evangelium des Matthäus gehalten, welche Meinung auch Hieronymus theilte. Mat thaus," sagt er (de vir. illustr. c. 3.), schrieb zuerst in Judäa für die zum Christenthum bekehrten Juden ein Evangelium Chrifti in he bräischer Sprache, das später, man weiß nicht, von wem, ins Griechi

"

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